Montag, 23. Januar 2012

Fortsetzungsnovelle Kapitel 2: Etwas im Schnee (20. Januar 1942)


Hans ärgerte sich über sich selbst, dass er sich nicht doch seine Lederjacke über den Wollpulli angezogen hatte. Es war weniger die Temperatur, die ihn frösteln ließ, als er den schmalen Weg aus dem Wald kam; es war der eisige Wind, der über den Acker pfiff. Er legte einen Zahn zu – und stoppte plötzlich, als er etwa 100 Meter entfernt etwas in einer Böschung liegen sah. Es war vielleicht ein Meter fünfzig, zwei Meter lang. Und bewegte sich ein wenig…

„Was geht’s mich an!?“, dachte Hans, doch statt weiter durch den Schnee Richtung Dorf zu stapfen, ging er langsam rückwärts zurück in den Wald, geschützt vom Dickicht der Nadelbäume auf das „Etwas“ zu. Seine Neugierde war einfach zu groß. Vielleicht ein Deserteur, von denen es nach den Niederlagen in Russland einige geben sollte; oder ein entflohener Zwangsarbeiter aus dem nahe liegenden Metallwerk; oder einer der Wilderer, die es in letzter Zeit immer mehr gab? Dann müsste er wieder hoch auf dem Berg, zum Haus, es seinem Vater melden. – Schritt für Schritt kam Hans näher und näher, und als er „es“, etwa zwanzig Meter entfernt, von der Seite erkennen konnte, traute er seinen Augen nicht.

Da lag ein Mädchen im Schnee, mit einem strahlenden Lächeln. Sie schien die Kälte nicht zu spüren. Sie lag einfach da, auf dem Bauch, schaute über die Böschung und erfreute sich am Anblick eines … Rehs im Winterkleid! Er erkannte sie, grob. Zumindest hatte er sie schon einmal im Dorf gesehen, im letzten Sommer, und obwohl Hans zu der Zeit mit seinen 17 Jahren noch nicht vertraut damit war, was Liebe zu einem Mädchen bedeutete, schon gar nicht hier in dieser einsamen Ecke des Harzes, hatte er doch jetzt, wo er sie zum zweiten Mal sah, das Bedürfnis, zu ihr zu gehen, sie anzusprechen, Zeit mit ihr zu verbringen… In diesem Frühjahr würde sie die erste Liebe seines Lebens werden. Und noch viele Jahrzehnte später würde er oft, sehr oft, an sie denken, an die erste, und letztlich einzige große Liebe seines Lebens, die nur wenige Monate dauern konnte.

Hans zögerte. Er beobachtete sie, sie beobachtete das Reh. Die Kirchturmuhr schlug 12 Uhr Mittag, sofort verschwand das Reh, das Mädchen stand schnell auf (vielleicht merkte sie jetzt erst dass sie fror) und ging raschen Schrittes Richtung Dorf. Hans blieb noch eine Weile stehen, auch wenn die Kälte langsam von den Füßen kommend in ihm hoch kroch. Aber er wollte ihr jetzt nicht folgen. Sicher würde er sie bald wieder sehen.

Zur gleichen Zeit, um die 200 Kilometer Luftlinie entfernt, begannen fünfzehn Herren eine „Besprechung mit anschließendem Frühstück“, um „gewisse Zuständigkeiten“ das besagte Mädchen im Schnee betreffend „bürokratisch zu klären“. Dass es sich bei diesem 16jährigen Mädchen um „unwertes Leben“ handelte, war schon seit langem klar. Aber es fehlten noch die sehr komplexen „organisatorischen, technischen und materiellen Voraussetzungen zur praktischen Inangriffnahme der Lösungsarbeiten“. Die Herren beschlossen einmütig, Sarah alsbald in einem Viehtransporter ohne Wasser und Nahrung in den Osten bringen zu lassen. Die Herren beschlossen einmütig, Sarah dort angekommen ermorden zu lassen. Die Herren beschlossen einmütig, Sarah dort ermordet verbrennen zu lassen.

Montag, 16. Januar 2012

Fortsetzungsnovelle Kapitel 1: Das Haus auf dem Berg (16. Januar 2012)

Tausende Menschen rasen täglich vorbei an diesem Haus. Einen Stau gab es hier noch nie, auch keinen Unfall, vom ersten Tag an, als die neue sechsspurige Autobahn vor knapp 20 Jahren freigegeben wurde. Millionen Menschen müssen es in all der Zeit gesehen haben, wenn sie die lang gezogene Kurve aus dem Westen kommend in den Harz fuhren, denn es steht auf einer Anhöhe, knapp 100 Meter über der Bahn. Nun, es ist nur ein Haus – keine Burg, kein Schloß, es hat nichts Besonderes an sich, außer das es schon sehr verfallen ist, denn seit fast 70 Jahren ist dort kein Mensch mehr gewesen. Nur einige Tiere des Waldes haben dort ein zu Hause gefunden. Sie stören die Leichen dort weniger, die mittlerweile bloß noch äußerst poröse Skelette sind.

Werner hatte eine ungefähre Vorstellung, wo das Haus liegen könnte, auch wenn der, der die Wegbeschreibung mit sehr zittrigen Händen geschrieben haben musste, eine Autobahn in dieser Gegend nicht einmal erahnen konnte. Als Werner aus der Kurve kam und es sah, wusste er sofort, dass er am Ziel war. Aber auch er fuhr vorbei, nur deutlich langsamer, etwa mit 50 Stundenkilometern. Gerne hätte er auf dem Standstreifen kurz angehalten, nur gab es diesen an dieser Stelle in diesem bergigen Land nicht. Aber er konnte im Dämmerlicht des Abends noch einen schmalen Weg erahnen, der von irgendwo kommend nach etwa 150, 200 Metern in einem Wald verschwindet und von dort – vielleicht – zum Haus auf dem Berg führt?
Morgen wird Werner versuchen, dort hin zu kommen, ohne eigentlich zu wissen, was er eigentlich in dem Haus sucht. Was würde ihn dort bloß erwarten? In seinem Haus.