1715, in
Bayern
Der Wolf sah ihn an diesem frühen Morgen schon kommen,
zunächst als kleinen Punkt am Himmel und dann immer größer und größer werdend
bis er schließlich auf der kleinen Lichtung mitten im Wald landete. Ein Vogel,
der ansonsten tagelang in der Luft verbringt und dabei sogar in 3.000 Metern
Höhe schlafend fliegt, saß nun sehr unbeholfen im Gras, das höher war als er
selbst mit seinen doch ungewöhnlich stattlichen 20 Zentimetern. Der leichte
Schnee tat sein übriges.
Während der Mauersegler noch versuchte, sich aufzurichten
und zu orientieren, schlich sich hinter seinem Rücken leise der Wolf an.
*
In der Nacht war Schnee gefallen. Ungewöhnlich, denn trotz
der bergigen Höhe war es Anfang Oktober viel zu früh für die ersten sichtbaren
Zeichen des herannahenden Winters. Das gab es noch nie.
Für den Mauersegler waren diese ersten Schneeflocken das
endgültige Signal, sich auf den langen Flug in den Süden Afrikas zu machen. Alle
anderen waren schon lange fortgezogen, nur er nicht. Als er aus seinem Nest im
Rathausturm in die kalte Morgenluft flog und auf den Marktplatz sah, wusste er,
dass es heute ein sehr schwerer Abschied sein würde.
*
Der Wolf kam näher und näher, nur noch knappe zwei Meter
trennten sie. Dies schien ihm nun nahe genug. Und obwohl sicher niemand im
Walde ihnen zusah geschweige denn ihnen zuhörte, traute sich der Wolf nur zu
flüstern…
„Mein Freund, …“, flüsterte der Wolf also, „… du musst wohl
heute los?“ Der Mauersegler drehte sich um und sah den Wolf. „Wolf, mein
Freund, ja.“ – Er hielt inne. „Ich…, ich bin gekommen, um…., um Abschied zu
nehmen.“ „Ja,…“, antwortete der Wolf, du hast eine lange, anstrengende und
gefährliche Reise vor dir.“ – Nun hielt der Wolf inne. „Ich freue mich schon
auf das Wiedersehen im nächsten Frühling.“, wollte er sagen, aber er sagte es
nicht. Stattdessen fragte der Wolf den Mauersegler: „Du bist mein Freund. Wie
oft hast du mich gewarnt, mich geführt, mir das Leben gerettet. Ich stehe tief
in deiner Schuld. Ich sehe etwas in deinen Augen, etwas, das nicht gut ist.“
*
Was der Mauersegler im ersten Morgenlicht auf dem Marktplatz
sah, war nicht gut. Der Landvogt war dort, einige Soldaten auf Pferden von der
nahen Garnison, und zahlreiche Dorfbewohner, in der Hoffnung auf die
versprochenen zehn Gulden, bewaffnet mit selbst gezimmerten Lanzen und Äxten.
Einige Knechte hatten Trommeln um den Hals. Eine Horde kleffender Hunde war an
einem Pfahl festgebunden, der sie kaum halten konnte vor Geifer, es war ein
Wunder, dass sie sich nicht selbst erdrosselten. Auf einem Wagen lagen massig
Seile mit angebundenen Lappen, hinten angebunden eine lebendige Ziege. Auf
einem zweiten Wagen lagen Spaten und Wolfsgarn bereit. Dann erklang schon die
Trompete. Der Vogt trieb die Meute an. Seit Monaten wartete er auf den ersten Schnee.
*
„Wolf, …“, sagte der Mauersegler, „… heute nehme ich nicht
nur Abschied für einen Winter, mein Freund, ich befürchte, ich muss Abschied
nehmen für immer.“ Der Wolf sah den Mauersegler mit klarem Blick an. „Oft
konnte ich dich warnen und leiten, doch heute sind es zu viele, sie sind zu
wild, und der Schnee wird dich verraten.“
„Ja.“ sagte der Wolf. Und schloss an: „Ich bin der letzte
meiner Art, seit über einem Jahr streife ich durch die Wälder, suche ich ein
Weib und finde keines mehr. Nicht einmal ein Rivale kreuzt mehr meinen Weg. Also
was soll ich hier noch?“
In der Ferne war schon die Jagdgesellschaft zu hören. „Da
kommen Sie schon.“, sagte der Mauersegler. „Flieh, ich will versuchen, dir
vielleicht doch einen Weg zu weisen.“ – Doch auch aus den anderen Richtungen
kam nun das Trommeln, die Trompeten, das Kleffen der Hunde. „Wieso nur die Hunde?“,
fragte der Mauersegler dem Wolf, „Sie sind dein Blut?“
Der Wolf schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht? Der Mensch
hat sie sich so gemacht.“ – „Flieg fort, flieg nach Afrika, ich bin bereit -
meine Spuren kann ich nicht verstecken und sie kommen von allen Seiten. Ich möchte nicht, dass du mein Ende siehst,
das ist der letzte Gefallen, um den ich dich bitte.“
*
Die Gemeinschaft der Jagenden hatte sich in vier Gruppen
aufgeteilt. Schnell hatte man die Spur des Wolfes im weißen Schnee gefunden,
sie führte hinunter ins Tal. Man bildete lange Ketten und das Tal wurde kleiner
und kleiner. Die Hunde nahmen die Witterung auf und wurden von den Leinen gelassen.
Der Mauersegler flog auf und hatte schnell 200 Meter Höhe
erreicht. Noch ein paar mal kreiste er über der Lichtung und grüßte den Wolf
ein letztes mal mit einem Schrei, bevor er sich auf seine 10.000 Kilometer
lange Reise machte.
Der Wolf sah hoch in die Luft und heulte einen letzten
Abschiedsgruß. Dann rannte er los. Die Richtung war egal. Er lief direkt in die
Waffen der Menschen.
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