Sonntag, 30. Oktober 2011

Ich packe meinen Koffer …

„Ein Kühlschrank…?“ – „Das scheint ja mehr ein Kofferwagen zu sein…“, lachte ich. „Na, ich will mein Bierchen schon kalt trinken auf Ibiza…“, sagte Adrian.

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Ich habe Adrian vor etwa vier Wochen kennen gelernt, gleich an meinem ersten Abend in Deutschland. Nachdem meine Großtante, bei der ich die ersten Wochen verbrachte, zu Bett gegangen war, schlich ich mich leise aus dem Haus und suchte die nächste Kneipe. Die Stimmung dort war lausig, an diesem lauen Aprilabend 1978. Deutschland hatte gerade das letzte Testspiel vor der Fußball-Weltmeisterschaft verloren. Drei zu eins – gegen Schweden. Adrian stand am Tresen, er sah aus, als hätte er schon mindestens ein Dutzend Biere intus. Oder mehr. Ich stand etwa eine Stunde neben ihm, ohne dass er mich wahrgenommen hätte. Sein Tunnelblick galt einzig und allein dem Wirt, der auch schon ziemlich angetrunken war. Sie diskutierten erhitzt die Leistung der Mannschaft, ob denn der olle Trainer noch was tauge, nicht lieber endlich in Rente gehen solle, und was für ein schreckliches WM-Lied es dieses Mal gäbe. Erst als ich den Wirt bat, zahlen zu dürfen, drehte sich Adrian das erste Mal zu mir. Er sah in mein Gesicht, etwas ungläubig, schaute zum Wirt, dann wieder zu mir – nahm meinen Deckel und sagte: „Nix da, Junge, wir trinken noch einen!“

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„OK, ein Kühlschrank…“ - Ich war wieder an der Reihe. Noch diese Runde, dann würde ich aufhören und gehen. Dann hatte ich alles eingepackt. Adrian würde sicher sauer sein, wenn ich so von jetzt auf gleich ginge, aber am nächsten Tag wäre es schon wieder vergeben und vergessen. „Also…“, fing ich an, „…ich packe meine Koffer und nehme mit … eine Badehose, meine Kulturtasche, eine Sonnenbrille, meinen Ausweis, …ähm, … das Schlauchboot, mein Lieblingsbuch, den Fußball, das Kruzifix meiner Mutter, der Wodka … - nein, erst das Fahrrad, mein Marmeladenglas, jetzt die Flasche Wodka, mein Schweizer Offizierstaschenmesser, den Kühlschrank… - und das Foto, das in meinem Wohnzimmer über der Kommode hängt.“ – Ich stand auf, legte 10 Mark auf den Tresen und sagte zu Adrian: „Sei bitte nicht böse, ich bin müde und denke an zu Hause, das macht mich gerade sehr traurig, wir sehn uns morgen.“

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Es ist schon komisch, dass jeder Deutsche automatisch denkt, wir sind alle Fußball-Verrückte. Sicher, viele sind es, ich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass mir der Nationalstolz fehlt. Als Adrian mich zum ersten Mal ansah, erkannte er natürlich sofort den Südamerikaner in mir. „Wo kommste her?“, fragte er. „Aus Buenos Aires.“, antwortete ich. „Mensch, da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt…“, lallte Adrian. In wenigen Wochen würde die Fußball-WM beginnen, die drei Vorrundenspiele meines Heimatlandes wurden in meiner Heimatstadt ausgetragen, im Stadion Monumental. Wer weiß, unter anderen Umständen, ich wäre sicher mit Emiliano, meinem zwei Jahre jüngeren Bruder, hingegangen, hätte gejubelt, geweint, gesungen, hätte die argentinische Fahne geschwenkt, die gegnerische Mannschaft ausgepfiffen und dem Schiedsrichter im Falle des Falles Schiebung Schiebung entgegen gebrüllt. Was man halt so macht im Stadion.

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Adrian hat sehr schnell begriffen, dass meine Begeisterung in Sachen Fußball gleich Null war. Aber er hatte mich ins Herz geschlossen. Und so redeten wir in den nächsten Wochen über alles Mögliche, über Musik, Frauen, Kunst, Autos, das Wetter – einfach über alles, außer über Fußball und die bevorstehende WM. Und immer, wenn er mich etwas fragte, was ich nicht an mich ranlassen wollte, log ich ihn an und sagte: „Du, da kann ich mich gar nicht dran erinnern, das habe ich alles irgendwie vergessen…! Vielleicht werd ich langsam dement…?!“ Einen Abend sagt er dann: „So, jetzt machen wir immer, wenn wir uns treffen, ein Gedächtnisspiel. – Sonst weißt du irgendwann nicht mal mehr wie du heißt…“, lachte er. Nachdem er mir in der letzten Wochen schon „Schnick Schnack Schnuck“ beigebracht hatte, als es ums Zigaretten holen ging, lernte ich nun ein neues Spiel kennen.

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Ich packte also meinen Koffer und nahm meine Kulturtasche mit. Meine Großtante würde mich abholen in Frankfurt. Über viele Jahre haben wir uns regelmäßig Briefe geschrieben. Nicht zuletzt deshalb war ich Klassenbester in Deutsch. Sie war mittlerweile schon sehr alt, und ich wollte ihr allen Respekt entgegenbringen, bei unserer ersten persönlichen Begegnung, und ordentlich für sie aussehen, sie kannte
mich bisher nur von einigen wenigen Fotos, die ich ihr mitschickte. Sie, dir mir nicht nur eine erste Anlaufstelle werden sollte, sondern die mir die ersten Jahre in der Fremde auch ein fester Halt war.

Ich packte meinen Ausweis in den Koffer. Mein Vater gab mir den Namen Thiago. Thiago Bochini. Diesen Namen gab es jetzt erst Mal nicht mehr. Ich hieß jetzt bis zur Landung in Frankfurt Mario Tinelli.

Ich zögerte einen Moment. Ich hatte die Bibel in der Hand, wollte sie gerade in meinen Koffer packen. Doch ich legte sie zurück auf den Nachttisch. Meine Großtante würde mir sicher gern ihre Luther-Bibel geben, von der sie in ihren Briefen oft so schwärmte. Und das als Katholikin... Ich würde viel darin lesen und so auch gleichzeitig mein Deutsch weiter verbessern. Es schien mir auch in diesem Moment falsch, die Heilige Schrift in meiner Muttersprache zu lesen. Stattdessen packte ich „Le petit prince“ in meinen Koffer. Ich würde es auf dem langen Flug nach Deutschland lesen, zum x-ten Mal, und es wieder ein kleines bisschen besser verstehen, dieses geheimnisvolle Büchlein.

Ich ging in die Küche. Dort hing das Kruzifix meiner Mutter; sie hatte es zur Kommunion bekommen. Ich packte das Kruzifix in meinen Koffer. Meine Mutter. Sie hatte Mut, verdammten Mut. Sie ging seit zehn Wochen Tag für Tag zweimal, manchmal auch dreimal auf die Polizeiwache, und fragte nach Emiliano. Jeden Donnerstag ging sie mit vielen anderen Müttern zum Platz der Mairevolution, vor dem Präsidentenplatz, um dort stumm zu protestieren. Gestern ist sie selbst „verschwunden“. Sie ging in der Früh zum Markt, bis spät in der Nacht war sie nicht zurück. Ich hatte in der Küche gewartet und gewartet, stundenlang, von Minute zu Minute mehr und mehr verzweifelt - irgendwann bin ich dann unter dem Kruzifix eingeschlafen. Am Morgen, kurz nach sechs klopfte es an der Hintertür, energisch, laut, Ich öffnete, hoffte, meine Mutter in die Arme schließen zu können. Da standen eine alte Frau und ein junger Polizist. Es war Diego, mit seiner Mutter. Mein Freund Diego, mit dem ich meine Kinder- und Jugendzeit verbrachte. Wir waren wie Pech und Schwefel, Freunde fürs Leben. Diegos Mutter, die wie meine eigene Mutter so viele Jahre liebevoll für mich da gewesen war, egal, was Diego und ich auch immer angestellt hatten. Diego sagte, während er mir den gefälschten Ausweis und etwas Geld in die Hand drückte, nur zwei Sätze. „Pack deinen Koffer, du hast fünf Minuten Zeit. Das Flugzeug geht um acht, wir bringen dich nach Frankfurt, zu deiner Großtante.“ Fünf Minuten Zeit, um
Abschied zu nehmen von diesem Ort, an dem ich geboren wurde, und um meinen Koffer zu packen.
Für neun Uhr war auch mein Verschwinden geplant.

Ich nahm das Marmeladenglas aus der Küchenanrichte. Den kleinen Rest Marmelade aß ich, ich war wie betäubt. Ich spülte das Glas und den Schraubverschluss, trocknete beides sorgfältig ab und ging dann in den Garten, um das Glas mit Erde zu füllen. Das Glas packte ich in meinen Koffer.

Ich hatte Angst. Ich steckte mein Schweizer Offizierstaschenmesser in meine Hosentasche. Für einen Augenblick musste ich hysterisch lachen. Ich stellte mir einen Zweikampf vor, ich todesmutig mit dem Messer in der Hand. Dann sah ich mich gefesselt auf einem Stuhl sitzend, und gewitzt mit dem Messer das Seil hinter meinem Rücken zerschneidend, während meine Wachen vor sich hin schnarchten. Ich sah mich mich selbst töten, aus Angst vor der Folter. - Ich zog das Messer aus der Hosentasche, legte es wieder an seinen Platz, nahm es erneut in die Hand und legte es schließlich doch in meinen Koffer.

Ich ging ins Wohnzimmer und nahm das Foto, das über der Kommode hing. Mein Bruder und ich, fotografiert vor etwa fünf, sechs Jahren. Mein Bruder war vor wenigen Wochen verschwunden. Einfach so. Gerade war er noch da, plötzlich war er weg. Heute weiß ich, er starb in der Marineschule ESMA, etwa 1.000 Meter entfernt vom Stadion Monumental in Buenos Aires. Dorthin schauten bald Abermillionen Menschen, live, es war Fußball-Weltmeisterschaft. Was mit meiner Mutter geschah, werde ich wohl nie erfahren. Es ist vielleicht auch besser so. Auch Diegos Schicksal ist mir nicht bekannt.

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„Wir töten erst die Subversiven, ihre Unterstützer, ihre Symphatisanten, alle, die sich nicht eindeutig
positionieren und schließlich die Ängstlichen.“
General Ibérico Saint Jean, Gouverneur der Provinz Buenos Aires

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