Mein Herz schlägt ... -
(doppelt schnell)
zutiefst bewegt!
(ein Wunder)
Wer es trägt?
(Gott)
*** für den Taufinator...-:) ***
Sonntag, 30. Oktober 2011
„Fröhliche Weihnachten, ihr Räuber!“
Ich bin Clown. Ich bringe Menschen zum Lachen, Jung und Alt, wie es so schön heißt. Ich bin Profi. Ich bringe einfach jeden zum Lachen. Das ist mein Job, dafür werde ich gut bezahlt.
Mit meiner Frau Katja habe ich oft darüber gesprochen, immer habe ich gesagt, ich kann und will das nicht – und irgendwann war das Thema dann auch durch. Aber in dem Jahr, am ersten Advent, hat sie mich doch überredet.
**
Als Profi begeistere ich sechs Abende die Woche Erwachsene. Als Teil einer Dinner-Event-Show bin ich irgendwo zwischen Hauptgericht und Trapeznummer an der Reihe. Etwas Slapstick, Akrobatik und Zauberei – zwanzig Minuten volle Konzentration, harte Arbeit. Es ist mein Job, wie schon gesagt, dafür werde ich bezahlt, gut bezahlt. Spaß macht er mir nicht. Nicht mehr.
**
Angefangen habe ich als Clown in einem kleinen Wanderzirkus. Immer einen Blick in Dutzende strahlende Kindergesichter. Ich war glücklich und erfüllt, jeder Auftritt war ein Geschenk für die Mädchen und Jungs – und für mich. Auch privat, denn irgendwann eines Tages kam Katja nach einer Vorstellung auf mich zu, noch schmunzelnd und glucksend. Sie hatte immer noch Bauchschmerzen vom Lachen und fragte, ob ich nicht bei der Weihnachtsfeier in ihrer Grundschule auftreten könne. Sie war mit ihrer 2. Klasse in unserem Zirkus gewesen. Die Weihnachtsfeier war toll, unsere Hochzeit ein Traum, nur dem Zirkus ging leider bald das Geld aus.
**
„Bitte!“, sagte Katja, genau in dem Ton und mit dem Blick, bei dem ich nicht Nein sagen kann. „Weißt du noch, damals im Zirkus?“ - Katja hat mittlerweile wohl den schwersten Job, den man haben kann. Sie arbeitet in einem Kinderhospiz. Jeden Tag. Ich weiß nicht, wie sie das aushält. Vielleicht hält sie es ja auch gar nicht aus, wir reden selten darüber. Eigentlich gar nicht. Obwohl wir schon seit fünf Jahren verheiratet sind.
„Fabian ist sieben und seit zwei Monaten bei uns, und ich habe nicht einmal einen Hauch von einem Lächeln gesehen, nicht mal ansatzweise. Ich habe schon alles probiert. Bitte!“ - Katja hatte mich früher oft gebeten, fast schon gedrängt, ich solle so etwas wie „Clown im Krankenhaus“ machen, aber ich habe mich immer gesperrt.
**
Ich war in ganz großer Kostümierung. Große Schuhe, buntes Clownskostüm, meine uralte Struwwelperücke
und natürlich die rote Nase. Gegeben habe ich mein „Best of the Best“ aus Zirkuszeiten, habe grimassiert und gezaubert. Fabian schaute mir mit großen Augen zu. Er fand vielleicht das ein oder andere, wie soll ich sagen, nicht in dem Sinne lustig, aber zumindest war da eine kleine Freude, die ich gesehen zu haben meine. Seine Augen wirkten nicht mehr so leer wie in dem Moment, als ich in das Zimmer kam. Nur verzaubern konnte ich ihn nicht, kein Lächeln auf seinem kleinen Gesicht.
**
Ich setzte mich auf Fabians Bettkante, verärgert über Katja, über mich, nahm meine Perücke ab und auch meine rote Nase. Da mein Gesicht so doll geschminkt und ich auch ganz schön ins Schwitzen gekommen war, fielen Fabian meine Tränen nicht auf, die mir über die Wangen liefen und die ich verstohlen wegwischte. Auch das bilde ich mir zumindest ein.
Es war bald Weihnachten, die zweite Kerze auf dem Kranz brannte an dem heutigen Adventsabend.
„Was wünschst du dir denn dieses Jahr vom Weihnachtsmann, Fabian?“, fragte ich, um wenigstens irgendetwas Aufmunterndes sagen zu können.
„Nichts …“, sagte er nur ganz leise.
„Nichts?“, fragte ich, fast ebenso leise – und überrascht. „Jeder Junge wünscht sich was zu Weihnachten!“
„Katja hat zu Mama und Papa gesagt …“
– „Du blöde, dumme Kuh …“ (ich ahnte, was Fabian sagen würde) –
„… dass ich zu Weihnachten …“
– „…wie bescheuert bist du eigentlich?“ –
„… nicht mehr da sein werde.“
– dachte ich voller Zorn auf Katja.
Wahrscheinlich hatte sie gedacht, dass Fabian schläft und nichts hört. Fabian wirkte dabei völlig gefasst.
Es war der zweite Advent, keine drei Wochen bis zum Heiligen Abend. Mir ging es jetzt noch schlechter. Ich senkte den Kopf.
Fabian half mir. „Eine kleine schwarze Katze.“
**
„Weißt du, was Weihnachten geschehen ist?“, fragte ich.
„Das Christuskind ist geboren.“, sagte Fabian ohne zu zögern.
„Und weißt du, wer das Christuskind ist?“
„Gottes Sohn?!?!“ Es war etwas Fragendes in dieser Antwort.
„Ja, richtig.“, sagte ich. „Und weißt du was? – Gott hört uns jetzt gerade zu und ich bin sicher, dass er alles tun wird, was er kann, damit du deine kleine schwarze Katze zu Weihnachten bekommst, das verspreche ich dir.“
Ich weinte. Fabian lächelte.
**
Heute ist der zweite Advent. Es ist jetzt fünf Jahre her. Fabian starb am 20. Dezember, vier Tage vor Heiligabend. Ich sah es sofort in Katjas Augen, als ich an dem Abend nach der Show zur Tür herein kam. Unsere Umarmung schien endlos zu dauern.
Ich denke oft an Fabian. Immer am zweiten Advent, immer am 20. Dezember. Manchmal auch ganz plötzlich, wenn ich zum Beispiel einen kleinen Jungen sehe, der Fabian ähnelt.
Und immer, immer, wenn ich eine kleine schwarze Katze sehe, spielend auf der Straße, auf der Pirsch
in einem Garten oder ruhend auf einer Fensterbank, schaue ich in den Himmel und sage ganz leise, aber
noch laut genug, damit die zwei es in ihrem selbstvergessenen Spiel da oben hören können: „Fröhliche Weihnachten, ihr Räuber!“
Mit meiner Frau Katja habe ich oft darüber gesprochen, immer habe ich gesagt, ich kann und will das nicht – und irgendwann war das Thema dann auch durch. Aber in dem Jahr, am ersten Advent, hat sie mich doch überredet.
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Als Profi begeistere ich sechs Abende die Woche Erwachsene. Als Teil einer Dinner-Event-Show bin ich irgendwo zwischen Hauptgericht und Trapeznummer an der Reihe. Etwas Slapstick, Akrobatik und Zauberei – zwanzig Minuten volle Konzentration, harte Arbeit. Es ist mein Job, wie schon gesagt, dafür werde ich bezahlt, gut bezahlt. Spaß macht er mir nicht. Nicht mehr.
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Angefangen habe ich als Clown in einem kleinen Wanderzirkus. Immer einen Blick in Dutzende strahlende Kindergesichter. Ich war glücklich und erfüllt, jeder Auftritt war ein Geschenk für die Mädchen und Jungs – und für mich. Auch privat, denn irgendwann eines Tages kam Katja nach einer Vorstellung auf mich zu, noch schmunzelnd und glucksend. Sie hatte immer noch Bauchschmerzen vom Lachen und fragte, ob ich nicht bei der Weihnachtsfeier in ihrer Grundschule auftreten könne. Sie war mit ihrer 2. Klasse in unserem Zirkus gewesen. Die Weihnachtsfeier war toll, unsere Hochzeit ein Traum, nur dem Zirkus ging leider bald das Geld aus.
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„Bitte!“, sagte Katja, genau in dem Ton und mit dem Blick, bei dem ich nicht Nein sagen kann. „Weißt du noch, damals im Zirkus?“ - Katja hat mittlerweile wohl den schwersten Job, den man haben kann. Sie arbeitet in einem Kinderhospiz. Jeden Tag. Ich weiß nicht, wie sie das aushält. Vielleicht hält sie es ja auch gar nicht aus, wir reden selten darüber. Eigentlich gar nicht. Obwohl wir schon seit fünf Jahren verheiratet sind.
„Fabian ist sieben und seit zwei Monaten bei uns, und ich habe nicht einmal einen Hauch von einem Lächeln gesehen, nicht mal ansatzweise. Ich habe schon alles probiert. Bitte!“ - Katja hatte mich früher oft gebeten, fast schon gedrängt, ich solle so etwas wie „Clown im Krankenhaus“ machen, aber ich habe mich immer gesperrt.
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Ich war in ganz großer Kostümierung. Große Schuhe, buntes Clownskostüm, meine uralte Struwwelperücke
und natürlich die rote Nase. Gegeben habe ich mein „Best of the Best“ aus Zirkuszeiten, habe grimassiert und gezaubert. Fabian schaute mir mit großen Augen zu. Er fand vielleicht das ein oder andere, wie soll ich sagen, nicht in dem Sinne lustig, aber zumindest war da eine kleine Freude, die ich gesehen zu haben meine. Seine Augen wirkten nicht mehr so leer wie in dem Moment, als ich in das Zimmer kam. Nur verzaubern konnte ich ihn nicht, kein Lächeln auf seinem kleinen Gesicht.
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Ich setzte mich auf Fabians Bettkante, verärgert über Katja, über mich, nahm meine Perücke ab und auch meine rote Nase. Da mein Gesicht so doll geschminkt und ich auch ganz schön ins Schwitzen gekommen war, fielen Fabian meine Tränen nicht auf, die mir über die Wangen liefen und die ich verstohlen wegwischte. Auch das bilde ich mir zumindest ein.
Es war bald Weihnachten, die zweite Kerze auf dem Kranz brannte an dem heutigen Adventsabend.
„Was wünschst du dir denn dieses Jahr vom Weihnachtsmann, Fabian?“, fragte ich, um wenigstens irgendetwas Aufmunterndes sagen zu können.
„Nichts …“, sagte er nur ganz leise.
„Nichts?“, fragte ich, fast ebenso leise – und überrascht. „Jeder Junge wünscht sich was zu Weihnachten!“
„Katja hat zu Mama und Papa gesagt …“
– „Du blöde, dumme Kuh …“ (ich ahnte, was Fabian sagen würde) –
„… dass ich zu Weihnachten …“
– „…wie bescheuert bist du eigentlich?“ –
„… nicht mehr da sein werde.“
– dachte ich voller Zorn auf Katja.
Wahrscheinlich hatte sie gedacht, dass Fabian schläft und nichts hört. Fabian wirkte dabei völlig gefasst.
Es war der zweite Advent, keine drei Wochen bis zum Heiligen Abend. Mir ging es jetzt noch schlechter. Ich senkte den Kopf.
Fabian half mir. „Eine kleine schwarze Katze.“
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„Weißt du, was Weihnachten geschehen ist?“, fragte ich.
„Das Christuskind ist geboren.“, sagte Fabian ohne zu zögern.
„Und weißt du, wer das Christuskind ist?“
„Gottes Sohn?!?!“ Es war etwas Fragendes in dieser Antwort.
„Ja, richtig.“, sagte ich. „Und weißt du was? – Gott hört uns jetzt gerade zu und ich bin sicher, dass er alles tun wird, was er kann, damit du deine kleine schwarze Katze zu Weihnachten bekommst, das verspreche ich dir.“
Ich weinte. Fabian lächelte.
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Heute ist der zweite Advent. Es ist jetzt fünf Jahre her. Fabian starb am 20. Dezember, vier Tage vor Heiligabend. Ich sah es sofort in Katjas Augen, als ich an dem Abend nach der Show zur Tür herein kam. Unsere Umarmung schien endlos zu dauern.
Ich denke oft an Fabian. Immer am zweiten Advent, immer am 20. Dezember. Manchmal auch ganz plötzlich, wenn ich zum Beispiel einen kleinen Jungen sehe, der Fabian ähnelt.
Und immer, immer, wenn ich eine kleine schwarze Katze sehe, spielend auf der Straße, auf der Pirsch
in einem Garten oder ruhend auf einer Fensterbank, schaue ich in den Himmel und sage ganz leise, aber
noch laut genug, damit die zwei es in ihrem selbstvergessenen Spiel da oben hören können: „Fröhliche Weihnachten, ihr Räuber!“
„Die sind gut für dich, Opa!“
„Wer ist dein Lieblingskomponist, Jude?“
„Richard Wagner, Herr Hauptmann!“ kam nach kurzem Zögern die Antwort von Samuel.
Wir durften ihn beim morgendlichen Appell nur mit „Herr Hauptmann“ anreden, und ihm nie in die Augen schauen - das war quasi die erste Lektion im Lager.
„Du wagst es, diesen Namen …“ – da knallte es schon – „…auszusprechen, du dreckiger Jude!“
Samuel fiel, sein Schädel war zerfetzt vom Geschoss. Der Hauptmann traf meist sehr genau.
**
Der Mensch ist ein erstaunliches Wesen. Er kann zum Beispiel in einer halben Sekunde Dutzende Gedanken verarbeiten, sie sortieren, abwägen, Entschlüsse fassen und wieder verwerfen, und dann - die Zeit drängt - eine endgültige Entscheidung treffen. Ob diese Entscheidung gut ist oder schlecht, richtig oder falsch, dumm oder weise – das weiß man freilich erst später.
**
„Spielst du ein Instrument?“, fragte der Hauptmann mich, zwei Wochen später. Vielleicht war es auch vier Wochen später, ich hatte kein Gefühl mehr für die Zeit. Ich spürte, dass er mich mit seinen strahlend blauen Augen ansah, in seiner makellos sitzenden Uniform, von der ich nur die gebügelten Hosenbeine und die frisch polierten Stiefel sah. Ich spürte seinen bohrenden Blick auf mir, er fixierte meinen Mund, lauerte darauf, was ich sagen würde. Ich habe das oft beobachtet – bei den anderen.
Die Zeit lief.
**
Was war nur die „richtige“ Antwort? Und, wäre es nicht „richtiger“ für mich, die „falsche“ Antwort zu geben, dann wäre ich endlich frei. Nur noch eine Sekunde diese Qualen, dann erlöst. Nein, ich wollte leben. Es gab Gerüchte, die Russen seien im Vormarsch. Ich wollte ihm die „richtige“ Antwort geben…
Einmal hatte er Benjamin gefragt „Welchen Film magst du?“
Was für eine Frage…? „Oh Benjamin, sag das richtige!“, dachte ich eine Ewigkeit, und in dieser einen Sekunde fielen mir etwa zwanzig, dreißig Filme ein, von „Metropolis“ über „M“ bis „Nosferatu“ und „Die Drei von der Tankstelle“…
„Der blaue Engel“, hörte ich Benjamin sagen. Und ich sah ein Lächeln beim Hauptmann, ein kleines Blitzen in seinen Augen. „Oh ja, die Dietrich – die macht selbst euch Juden verrückt!“, lachte er und verschwand. Die Antwort war „richtig“.
Die Zeit lief. Blauer Engel. Richtig. Richard Wagner falsch. Macht das Sinn?
So sortierte ich alle Fragen und alle Antworten, die mir in dieser halben Sekunde einfielen, hin und her, versuchte Verbindungen zur gerade gestellten Frage zu knüpfen. Spielst du ein Instrument?
Lieblingsfarbe blau. Richtig. Lieblingsstadt Berlin. Falsch. Der schönste Fluss Deutschlands. Natürlich der Rhein. Richtig. Lieblingstier Katze. Falsch. Oh Amos, wie kannst du bei einem deutschen Lagerkommandanten bloß Katze sagen, ein Deutscher Schäferhund hätte dich vielleicht gerettet. Denke ich. Was war bisher mit Musik. Er mag die Oper – und er ist sehr feingeistig, liebt Goethe, Schiller, Bach und Beethoven. Manchmal sitzt er stundenlang auf seiner Terasse und schreibt in ein kleines Büchlein. Gedichte über die Natur. Und manchmal, sonntags, werden sie über den Lagerlautsprecher vorgelesen. Es sind schöne poetische Gedichte. Die meisten von uns glauben nicht, dass sie tatsächlich vom Hauptmann geschrieben wurden. Ich denke schon. Ein und derselbe Mensch ist zu vielerlei in der Lage. Eigentlich ist das doch eine relativ leichte Frage. In diesen lauen Sommernächten tönen immer Etüden von Chopin aus den Lautsprechern, nachts, wenn der Hauptmann mit seinen Gästen und Offizieren feiert, wenn wir versuchen, wenigsten ein bisschen zu schlafen, wenn wir die wenigen Stunden des Friedens haben, untereinander, miteinander in unseren Baracken. So können schöne Etüden schrecklich sein. Meine Wahrheit ist Trompete, das war schön und wild, Ende der 20er, in meiner Jazz-Band in Berlin, Mann, waren wir gut. Aber ich weiß, seine Kugel trifft
mich noch bevor er das Wort Neger-Musik brüllt...
„Ich spiele Klavier, Herr Hauptmann!“, sagte ich ohne zu zögern, starrte dabei auf seine glänzenden Stiefelspitzen und wartete eine Ewigkeit darauf, was passieren würde.
**
„Oh, ein Jude, der Klavier spielen kann.“ Ein ganzer Satz vom Hauptmann. In einem durchaus freundlichen Ton. Ich lebte. Am liebsten wäre ich vor Freude jubelnd über den Hof gesprungen, hätte gern Eli, Adam und Daniel umarmt und geküsst – aber ich stand unbeweglich da, den Blick nach unten gesenkt.
Der Hauptmann kam näher, ganz nah an mich ran, ich konnte seinen Atem riechen. Knoblauch. Er sagte nichts mehr, schnaufte nur und ging.
**
Jahrzehntelang trübte sich mein Geist, wenn ich Knoblauch roch. Als ich noch jung war, reichte es, mich kurz irgendwo festzuhalten, kurz durchzuatmen. Ich hatte erst gehofft, mit zunehmendem Alter würde es besser werden, aber das wurde es nicht. Es wurde schlimmer und schlimmer.
Heute esse ich sogar Knoblauch… Mit großer Freude, ich habe so viele Jahre darauf verzichten müssen. Ich verdanke es meiner Enkelin.
Anna war 14 Jahre jung, sie schenkte mir zu meinem 75. Geburtstag eine Riesen-Vorrats-Packung Knoblauch-Pillen, 150 Stück… - „Die sind gut für dich, Opa!“, sagte sie lachend, als ich erkannte, was ich da aus dem glänzenden Geschenkpapier auspackte. Für einen kurzen Moment wurde mir schwarz vor Augen, ich ringte mit der Ohnmacht. Woher sollte Anna es wissen? Ich habe meine Geschichte in all den Jahren niemandem erzählt, nicht meiner Frau, die ich nach dem Krieg kennen gelernt habe und nicht meinen drei Kindern. Schon gar nicht meinen Enkeln.
Annas Lächeln gefror, sie sah in meine Augen: noch vor einer Sekunde hell, klar und leuchtend, in freudiger Erwartung auf das Geschenk der Lieblingsenkelin, und nun dunkel, trüb und gebrochen. Sie nahm meine Hand, wollte etwas sagen, aber ihr fehlten die Worte. Ich sah Anna, ihr Mund lächelte noch, ihre Augen weinten schon fast. In dieser halben Sekunde verarbeitete ich Dutzende Gedanken, sortierte, wägte ab und fasste einen Entschluss. Wieder war es der richtige Entschluss.
„Anna…“ - meine Augen hellten sich auf, wurden klar und strahlten, heute, an meinem 75. Geburtstag, sollte Schluss sein mit meinem Schweigen - „…,Anna, ich danke dir von ganzem Herzen, du hast mir das schönste Geschenk gemacht, das ich jemals in meinem Leben bekommen habe – ich möchte dir von mir erzählen…“
„Richard Wagner, Herr Hauptmann!“ kam nach kurzem Zögern die Antwort von Samuel.
Wir durften ihn beim morgendlichen Appell nur mit „Herr Hauptmann“ anreden, und ihm nie in die Augen schauen - das war quasi die erste Lektion im Lager.
„Du wagst es, diesen Namen …“ – da knallte es schon – „…auszusprechen, du dreckiger Jude!“
Samuel fiel, sein Schädel war zerfetzt vom Geschoss. Der Hauptmann traf meist sehr genau.
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Der Mensch ist ein erstaunliches Wesen. Er kann zum Beispiel in einer halben Sekunde Dutzende Gedanken verarbeiten, sie sortieren, abwägen, Entschlüsse fassen und wieder verwerfen, und dann - die Zeit drängt - eine endgültige Entscheidung treffen. Ob diese Entscheidung gut ist oder schlecht, richtig oder falsch, dumm oder weise – das weiß man freilich erst später.
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„Spielst du ein Instrument?“, fragte der Hauptmann mich, zwei Wochen später. Vielleicht war es auch vier Wochen später, ich hatte kein Gefühl mehr für die Zeit. Ich spürte, dass er mich mit seinen strahlend blauen Augen ansah, in seiner makellos sitzenden Uniform, von der ich nur die gebügelten Hosenbeine und die frisch polierten Stiefel sah. Ich spürte seinen bohrenden Blick auf mir, er fixierte meinen Mund, lauerte darauf, was ich sagen würde. Ich habe das oft beobachtet – bei den anderen.
Die Zeit lief.
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Was war nur die „richtige“ Antwort? Und, wäre es nicht „richtiger“ für mich, die „falsche“ Antwort zu geben, dann wäre ich endlich frei. Nur noch eine Sekunde diese Qualen, dann erlöst. Nein, ich wollte leben. Es gab Gerüchte, die Russen seien im Vormarsch. Ich wollte ihm die „richtige“ Antwort geben…
Einmal hatte er Benjamin gefragt „Welchen Film magst du?“
Was für eine Frage…? „Oh Benjamin, sag das richtige!“, dachte ich eine Ewigkeit, und in dieser einen Sekunde fielen mir etwa zwanzig, dreißig Filme ein, von „Metropolis“ über „M“ bis „Nosferatu“ und „Die Drei von der Tankstelle“…
„Der blaue Engel“, hörte ich Benjamin sagen. Und ich sah ein Lächeln beim Hauptmann, ein kleines Blitzen in seinen Augen. „Oh ja, die Dietrich – die macht selbst euch Juden verrückt!“, lachte er und verschwand. Die Antwort war „richtig“.
Die Zeit lief. Blauer Engel. Richtig. Richard Wagner falsch. Macht das Sinn?
So sortierte ich alle Fragen und alle Antworten, die mir in dieser halben Sekunde einfielen, hin und her, versuchte Verbindungen zur gerade gestellten Frage zu knüpfen. Spielst du ein Instrument?
Lieblingsfarbe blau. Richtig. Lieblingsstadt Berlin. Falsch. Der schönste Fluss Deutschlands. Natürlich der Rhein. Richtig. Lieblingstier Katze. Falsch. Oh Amos, wie kannst du bei einem deutschen Lagerkommandanten bloß Katze sagen, ein Deutscher Schäferhund hätte dich vielleicht gerettet. Denke ich. Was war bisher mit Musik. Er mag die Oper – und er ist sehr feingeistig, liebt Goethe, Schiller, Bach und Beethoven. Manchmal sitzt er stundenlang auf seiner Terasse und schreibt in ein kleines Büchlein. Gedichte über die Natur. Und manchmal, sonntags, werden sie über den Lagerlautsprecher vorgelesen. Es sind schöne poetische Gedichte. Die meisten von uns glauben nicht, dass sie tatsächlich vom Hauptmann geschrieben wurden. Ich denke schon. Ein und derselbe Mensch ist zu vielerlei in der Lage. Eigentlich ist das doch eine relativ leichte Frage. In diesen lauen Sommernächten tönen immer Etüden von Chopin aus den Lautsprechern, nachts, wenn der Hauptmann mit seinen Gästen und Offizieren feiert, wenn wir versuchen, wenigsten ein bisschen zu schlafen, wenn wir die wenigen Stunden des Friedens haben, untereinander, miteinander in unseren Baracken. So können schöne Etüden schrecklich sein. Meine Wahrheit ist Trompete, das war schön und wild, Ende der 20er, in meiner Jazz-Band in Berlin, Mann, waren wir gut. Aber ich weiß, seine Kugel trifft
mich noch bevor er das Wort Neger-Musik brüllt...
„Ich spiele Klavier, Herr Hauptmann!“, sagte ich ohne zu zögern, starrte dabei auf seine glänzenden Stiefelspitzen und wartete eine Ewigkeit darauf, was passieren würde.
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„Oh, ein Jude, der Klavier spielen kann.“ Ein ganzer Satz vom Hauptmann. In einem durchaus freundlichen Ton. Ich lebte. Am liebsten wäre ich vor Freude jubelnd über den Hof gesprungen, hätte gern Eli, Adam und Daniel umarmt und geküsst – aber ich stand unbeweglich da, den Blick nach unten gesenkt.
Der Hauptmann kam näher, ganz nah an mich ran, ich konnte seinen Atem riechen. Knoblauch. Er sagte nichts mehr, schnaufte nur und ging.
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Jahrzehntelang trübte sich mein Geist, wenn ich Knoblauch roch. Als ich noch jung war, reichte es, mich kurz irgendwo festzuhalten, kurz durchzuatmen. Ich hatte erst gehofft, mit zunehmendem Alter würde es besser werden, aber das wurde es nicht. Es wurde schlimmer und schlimmer.
Heute esse ich sogar Knoblauch… Mit großer Freude, ich habe so viele Jahre darauf verzichten müssen. Ich verdanke es meiner Enkelin.
Anna war 14 Jahre jung, sie schenkte mir zu meinem 75. Geburtstag eine Riesen-Vorrats-Packung Knoblauch-Pillen, 150 Stück… - „Die sind gut für dich, Opa!“, sagte sie lachend, als ich erkannte, was ich da aus dem glänzenden Geschenkpapier auspackte. Für einen kurzen Moment wurde mir schwarz vor Augen, ich ringte mit der Ohnmacht. Woher sollte Anna es wissen? Ich habe meine Geschichte in all den Jahren niemandem erzählt, nicht meiner Frau, die ich nach dem Krieg kennen gelernt habe und nicht meinen drei Kindern. Schon gar nicht meinen Enkeln.
Annas Lächeln gefror, sie sah in meine Augen: noch vor einer Sekunde hell, klar und leuchtend, in freudiger Erwartung auf das Geschenk der Lieblingsenkelin, und nun dunkel, trüb und gebrochen. Sie nahm meine Hand, wollte etwas sagen, aber ihr fehlten die Worte. Ich sah Anna, ihr Mund lächelte noch, ihre Augen weinten schon fast. In dieser halben Sekunde verarbeitete ich Dutzende Gedanken, sortierte, wägte ab und fasste einen Entschluss. Wieder war es der richtige Entschluss.
„Anna…“ - meine Augen hellten sich auf, wurden klar und strahlten, heute, an meinem 75. Geburtstag, sollte Schluss sein mit meinem Schweigen - „…,Anna, ich danke dir von ganzem Herzen, du hast mir das schönste Geschenk gemacht, das ich jemals in meinem Leben bekommen habe – ich möchte dir von mir erzählen…“
Die Katze konnte nicht sprechen
Das Mädchen war fünf, als es die Katze bekam. Alles war gut.
**
Als der Vater das erste Mal ins Zimmer kam und blieb, lag die Katze wie immer auf dem Schaukelstuhl vor dem Fenster. Das Mädchen war acht. Die Katze sah was geschah und wusste, es war nicht gut. Danach weinte das Mädchen. Die Katze sprang vom Schaukelstuhl und ging langsam, unsicher zum Bett. Das Mädchen sah die Katze, nahm sie und drückte sie so doll, dass der Katze die Luft wegblieb. Aber die Katze wollte das Mädchen trösten.
**
Der Vater kam immer öfter ins Zimmer und tat dem Mädchen weh. Dem Vater war es egal, ob die Katze im Zimmer war oder nicht. Manchmal war die Katze gerade nicht da, wenn es geschah. Dann verkroch sich die Katze, entweder im Wohnzimmer hinterm Sofa oder in der Küche hinterm Ofen. Je nachdem, wo die Mutter gerade nicht war. Die Mutter hörte weg und schwieg. Die Katze konnte nicht sprechen.
**
Das Mädchen war fünfzehn, da kam es mit einem Korb nach Hause. Die Katze sprang in den Korb, sie wusste, das Mädchen würde diesen Ort verlassen.
**
Einmal war die Mutter da. Es klingelte. Das Mädchen öffnete die Tür. Als es die Mutter sah, sagte es nichts, schloss nur langsam und leise die Tür, ohne die Mutter einzulassen. Dann ging es zur Katze und suchte und bekam Trost.
**
Das Mädchen war eine Frau, die Katze war alt und krank. Als die Katze in den Armen der Frau starb, war sie glücklich. Sie spürte die Liebe des Mädchens stärker als je zuvor.
**
Als der Vater das erste Mal ins Zimmer kam und blieb, lag die Katze wie immer auf dem Schaukelstuhl vor dem Fenster. Das Mädchen war acht. Die Katze sah was geschah und wusste, es war nicht gut. Danach weinte das Mädchen. Die Katze sprang vom Schaukelstuhl und ging langsam, unsicher zum Bett. Das Mädchen sah die Katze, nahm sie und drückte sie so doll, dass der Katze die Luft wegblieb. Aber die Katze wollte das Mädchen trösten.
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Der Vater kam immer öfter ins Zimmer und tat dem Mädchen weh. Dem Vater war es egal, ob die Katze im Zimmer war oder nicht. Manchmal war die Katze gerade nicht da, wenn es geschah. Dann verkroch sich die Katze, entweder im Wohnzimmer hinterm Sofa oder in der Küche hinterm Ofen. Je nachdem, wo die Mutter gerade nicht war. Die Mutter hörte weg und schwieg. Die Katze konnte nicht sprechen.
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Das Mädchen war fünfzehn, da kam es mit einem Korb nach Hause. Die Katze sprang in den Korb, sie wusste, das Mädchen würde diesen Ort verlassen.
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Einmal war die Mutter da. Es klingelte. Das Mädchen öffnete die Tür. Als es die Mutter sah, sagte es nichts, schloss nur langsam und leise die Tür, ohne die Mutter einzulassen. Dann ging es zur Katze und suchte und bekam Trost.
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Das Mädchen war eine Frau, die Katze war alt und krank. Als die Katze in den Armen der Frau starb, war sie glücklich. Sie spürte die Liebe des Mädchens stärker als je zuvor.
Ich packe meinen Koffer …
„Ein Kühlschrank…?“ – „Das scheint ja mehr ein Kofferwagen zu sein…“, lachte ich. „Na, ich will mein Bierchen schon kalt trinken auf Ibiza…“, sagte Adrian.
**
Ich habe Adrian vor etwa vier Wochen kennen gelernt, gleich an meinem ersten Abend in Deutschland. Nachdem meine Großtante, bei der ich die ersten Wochen verbrachte, zu Bett gegangen war, schlich ich mich leise aus dem Haus und suchte die nächste Kneipe. Die Stimmung dort war lausig, an diesem lauen Aprilabend 1978. Deutschland hatte gerade das letzte Testspiel vor der Fußball-Weltmeisterschaft verloren. Drei zu eins – gegen Schweden. Adrian stand am Tresen, er sah aus, als hätte er schon mindestens ein Dutzend Biere intus. Oder mehr. Ich stand etwa eine Stunde neben ihm, ohne dass er mich wahrgenommen hätte. Sein Tunnelblick galt einzig und allein dem Wirt, der auch schon ziemlich angetrunken war. Sie diskutierten erhitzt die Leistung der Mannschaft, ob denn der olle Trainer noch was tauge, nicht lieber endlich in Rente gehen solle, und was für ein schreckliches WM-Lied es dieses Mal gäbe. Erst als ich den Wirt bat, zahlen zu dürfen, drehte sich Adrian das erste Mal zu mir. Er sah in mein Gesicht, etwas ungläubig, schaute zum Wirt, dann wieder zu mir – nahm meinen Deckel und sagte: „Nix da, Junge, wir trinken noch einen!“
**
„OK, ein Kühlschrank…“ - Ich war wieder an der Reihe. Noch diese Runde, dann würde ich aufhören und gehen. Dann hatte ich alles eingepackt. Adrian würde sicher sauer sein, wenn ich so von jetzt auf gleich ginge, aber am nächsten Tag wäre es schon wieder vergeben und vergessen. „Also…“, fing ich an, „…ich packe meine Koffer und nehme mit … eine Badehose, meine Kulturtasche, eine Sonnenbrille, meinen Ausweis, …ähm, … das Schlauchboot, mein Lieblingsbuch, den Fußball, das Kruzifix meiner Mutter, der Wodka … - nein, erst das Fahrrad, mein Marmeladenglas, jetzt die Flasche Wodka, mein Schweizer Offizierstaschenmesser, den Kühlschrank… - und das Foto, das in meinem Wohnzimmer über der Kommode hängt.“ – Ich stand auf, legte 10 Mark auf den Tresen und sagte zu Adrian: „Sei bitte nicht böse, ich bin müde und denke an zu Hause, das macht mich gerade sehr traurig, wir sehn uns morgen.“
**
Es ist schon komisch, dass jeder Deutsche automatisch denkt, wir sind alle Fußball-Verrückte. Sicher, viele sind es, ich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass mir der Nationalstolz fehlt. Als Adrian mich zum ersten Mal ansah, erkannte er natürlich sofort den Südamerikaner in mir. „Wo kommste her?“, fragte er. „Aus Buenos Aires.“, antwortete ich. „Mensch, da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt…“, lallte Adrian. In wenigen Wochen würde die Fußball-WM beginnen, die drei Vorrundenspiele meines Heimatlandes wurden in meiner Heimatstadt ausgetragen, im Stadion Monumental. Wer weiß, unter anderen Umständen, ich wäre sicher mit Emiliano, meinem zwei Jahre jüngeren Bruder, hingegangen, hätte gejubelt, geweint, gesungen, hätte die argentinische Fahne geschwenkt, die gegnerische Mannschaft ausgepfiffen und dem Schiedsrichter im Falle des Falles Schiebung Schiebung entgegen gebrüllt. Was man halt so macht im Stadion.
**
Adrian hat sehr schnell begriffen, dass meine Begeisterung in Sachen Fußball gleich Null war. Aber er hatte mich ins Herz geschlossen. Und so redeten wir in den nächsten Wochen über alles Mögliche, über Musik, Frauen, Kunst, Autos, das Wetter – einfach über alles, außer über Fußball und die bevorstehende WM. Und immer, wenn er mich etwas fragte, was ich nicht an mich ranlassen wollte, log ich ihn an und sagte: „Du, da kann ich mich gar nicht dran erinnern, das habe ich alles irgendwie vergessen…! Vielleicht werd ich langsam dement…?!“ Einen Abend sagt er dann: „So, jetzt machen wir immer, wenn wir uns treffen, ein Gedächtnisspiel. – Sonst weißt du irgendwann nicht mal mehr wie du heißt…“, lachte er. Nachdem er mir in der letzten Wochen schon „Schnick Schnack Schnuck“ beigebracht hatte, als es ums Zigaretten holen ging, lernte ich nun ein neues Spiel kennen.
**
Ich packte also meinen Koffer und nahm meine Kulturtasche mit. Meine Großtante würde mich abholen in Frankfurt. Über viele Jahre haben wir uns regelmäßig Briefe geschrieben. Nicht zuletzt deshalb war ich Klassenbester in Deutsch. Sie war mittlerweile schon sehr alt, und ich wollte ihr allen Respekt entgegenbringen, bei unserer ersten persönlichen Begegnung, und ordentlich für sie aussehen, sie kannte
mich bisher nur von einigen wenigen Fotos, die ich ihr mitschickte. Sie, dir mir nicht nur eine erste Anlaufstelle werden sollte, sondern die mir die ersten Jahre in der Fremde auch ein fester Halt war.
Ich packte meinen Ausweis in den Koffer. Mein Vater gab mir den Namen Thiago. Thiago Bochini. Diesen Namen gab es jetzt erst Mal nicht mehr. Ich hieß jetzt bis zur Landung in Frankfurt Mario Tinelli.
Ich zögerte einen Moment. Ich hatte die Bibel in der Hand, wollte sie gerade in meinen Koffer packen. Doch ich legte sie zurück auf den Nachttisch. Meine Großtante würde mir sicher gern ihre Luther-Bibel geben, von der sie in ihren Briefen oft so schwärmte. Und das als Katholikin... Ich würde viel darin lesen und so auch gleichzeitig mein Deutsch weiter verbessern. Es schien mir auch in diesem Moment falsch, die Heilige Schrift in meiner Muttersprache zu lesen. Stattdessen packte ich „Le petit prince“ in meinen Koffer. Ich würde es auf dem langen Flug nach Deutschland lesen, zum x-ten Mal, und es wieder ein kleines bisschen besser verstehen, dieses geheimnisvolle Büchlein.
Ich ging in die Küche. Dort hing das Kruzifix meiner Mutter; sie hatte es zur Kommunion bekommen. Ich packte das Kruzifix in meinen Koffer. Meine Mutter. Sie hatte Mut, verdammten Mut. Sie ging seit zehn Wochen Tag für Tag zweimal, manchmal auch dreimal auf die Polizeiwache, und fragte nach Emiliano. Jeden Donnerstag ging sie mit vielen anderen Müttern zum Platz der Mairevolution, vor dem Präsidentenplatz, um dort stumm zu protestieren. Gestern ist sie selbst „verschwunden“. Sie ging in der Früh zum Markt, bis spät in der Nacht war sie nicht zurück. Ich hatte in der Küche gewartet und gewartet, stundenlang, von Minute zu Minute mehr und mehr verzweifelt - irgendwann bin ich dann unter dem Kruzifix eingeschlafen. Am Morgen, kurz nach sechs klopfte es an der Hintertür, energisch, laut, Ich öffnete, hoffte, meine Mutter in die Arme schließen zu können. Da standen eine alte Frau und ein junger Polizist. Es war Diego, mit seiner Mutter. Mein Freund Diego, mit dem ich meine Kinder- und Jugendzeit verbrachte. Wir waren wie Pech und Schwefel, Freunde fürs Leben. Diegos Mutter, die wie meine eigene Mutter so viele Jahre liebevoll für mich da gewesen war, egal, was Diego und ich auch immer angestellt hatten. Diego sagte, während er mir den gefälschten Ausweis und etwas Geld in die Hand drückte, nur zwei Sätze. „Pack deinen Koffer, du hast fünf Minuten Zeit. Das Flugzeug geht um acht, wir bringen dich nach Frankfurt, zu deiner Großtante.“ Fünf Minuten Zeit, um
Abschied zu nehmen von diesem Ort, an dem ich geboren wurde, und um meinen Koffer zu packen.
Für neun Uhr war auch mein Verschwinden geplant.
Ich nahm das Marmeladenglas aus der Küchenanrichte. Den kleinen Rest Marmelade aß ich, ich war wie betäubt. Ich spülte das Glas und den Schraubverschluss, trocknete beides sorgfältig ab und ging dann in den Garten, um das Glas mit Erde zu füllen. Das Glas packte ich in meinen Koffer.
Ich hatte Angst. Ich steckte mein Schweizer Offizierstaschenmesser in meine Hosentasche. Für einen Augenblick musste ich hysterisch lachen. Ich stellte mir einen Zweikampf vor, ich todesmutig mit dem Messer in der Hand. Dann sah ich mich gefesselt auf einem Stuhl sitzend, und gewitzt mit dem Messer das Seil hinter meinem Rücken zerschneidend, während meine Wachen vor sich hin schnarchten. Ich sah mich mich selbst töten, aus Angst vor der Folter. - Ich zog das Messer aus der Hosentasche, legte es wieder an seinen Platz, nahm es erneut in die Hand und legte es schließlich doch in meinen Koffer.
Ich ging ins Wohnzimmer und nahm das Foto, das über der Kommode hing. Mein Bruder und ich, fotografiert vor etwa fünf, sechs Jahren. Mein Bruder war vor wenigen Wochen verschwunden. Einfach so. Gerade war er noch da, plötzlich war er weg. Heute weiß ich, er starb in der Marineschule ESMA, etwa 1.000 Meter entfernt vom Stadion Monumental in Buenos Aires. Dorthin schauten bald Abermillionen Menschen, live, es war Fußball-Weltmeisterschaft. Was mit meiner Mutter geschah, werde ich wohl nie erfahren. Es ist vielleicht auch besser so. Auch Diegos Schicksal ist mir nicht bekannt.
**
„Wir töten erst die Subversiven, ihre Unterstützer, ihre Symphatisanten, alle, die sich nicht eindeutig
positionieren und schließlich die Ängstlichen.“
General Ibérico Saint Jean, Gouverneur der Provinz Buenos Aires
**
Ich habe Adrian vor etwa vier Wochen kennen gelernt, gleich an meinem ersten Abend in Deutschland. Nachdem meine Großtante, bei der ich die ersten Wochen verbrachte, zu Bett gegangen war, schlich ich mich leise aus dem Haus und suchte die nächste Kneipe. Die Stimmung dort war lausig, an diesem lauen Aprilabend 1978. Deutschland hatte gerade das letzte Testspiel vor der Fußball-Weltmeisterschaft verloren. Drei zu eins – gegen Schweden. Adrian stand am Tresen, er sah aus, als hätte er schon mindestens ein Dutzend Biere intus. Oder mehr. Ich stand etwa eine Stunde neben ihm, ohne dass er mich wahrgenommen hätte. Sein Tunnelblick galt einzig und allein dem Wirt, der auch schon ziemlich angetrunken war. Sie diskutierten erhitzt die Leistung der Mannschaft, ob denn der olle Trainer noch was tauge, nicht lieber endlich in Rente gehen solle, und was für ein schreckliches WM-Lied es dieses Mal gäbe. Erst als ich den Wirt bat, zahlen zu dürfen, drehte sich Adrian das erste Mal zu mir. Er sah in mein Gesicht, etwas ungläubig, schaute zum Wirt, dann wieder zu mir – nahm meinen Deckel und sagte: „Nix da, Junge, wir trinken noch einen!“
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„OK, ein Kühlschrank…“ - Ich war wieder an der Reihe. Noch diese Runde, dann würde ich aufhören und gehen. Dann hatte ich alles eingepackt. Adrian würde sicher sauer sein, wenn ich so von jetzt auf gleich ginge, aber am nächsten Tag wäre es schon wieder vergeben und vergessen. „Also…“, fing ich an, „…ich packe meine Koffer und nehme mit … eine Badehose, meine Kulturtasche, eine Sonnenbrille, meinen Ausweis, …ähm, … das Schlauchboot, mein Lieblingsbuch, den Fußball, das Kruzifix meiner Mutter, der Wodka … - nein, erst das Fahrrad, mein Marmeladenglas, jetzt die Flasche Wodka, mein Schweizer Offizierstaschenmesser, den Kühlschrank… - und das Foto, das in meinem Wohnzimmer über der Kommode hängt.“ – Ich stand auf, legte 10 Mark auf den Tresen und sagte zu Adrian: „Sei bitte nicht böse, ich bin müde und denke an zu Hause, das macht mich gerade sehr traurig, wir sehn uns morgen.“
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Es ist schon komisch, dass jeder Deutsche automatisch denkt, wir sind alle Fußball-Verrückte. Sicher, viele sind es, ich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass mir der Nationalstolz fehlt. Als Adrian mich zum ersten Mal ansah, erkannte er natürlich sofort den Südamerikaner in mir. „Wo kommste her?“, fragte er. „Aus Buenos Aires.“, antwortete ich. „Mensch, da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt…“, lallte Adrian. In wenigen Wochen würde die Fußball-WM beginnen, die drei Vorrundenspiele meines Heimatlandes wurden in meiner Heimatstadt ausgetragen, im Stadion Monumental. Wer weiß, unter anderen Umständen, ich wäre sicher mit Emiliano, meinem zwei Jahre jüngeren Bruder, hingegangen, hätte gejubelt, geweint, gesungen, hätte die argentinische Fahne geschwenkt, die gegnerische Mannschaft ausgepfiffen und dem Schiedsrichter im Falle des Falles Schiebung Schiebung entgegen gebrüllt. Was man halt so macht im Stadion.
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Adrian hat sehr schnell begriffen, dass meine Begeisterung in Sachen Fußball gleich Null war. Aber er hatte mich ins Herz geschlossen. Und so redeten wir in den nächsten Wochen über alles Mögliche, über Musik, Frauen, Kunst, Autos, das Wetter – einfach über alles, außer über Fußball und die bevorstehende WM. Und immer, wenn er mich etwas fragte, was ich nicht an mich ranlassen wollte, log ich ihn an und sagte: „Du, da kann ich mich gar nicht dran erinnern, das habe ich alles irgendwie vergessen…! Vielleicht werd ich langsam dement…?!“ Einen Abend sagt er dann: „So, jetzt machen wir immer, wenn wir uns treffen, ein Gedächtnisspiel. – Sonst weißt du irgendwann nicht mal mehr wie du heißt…“, lachte er. Nachdem er mir in der letzten Wochen schon „Schnick Schnack Schnuck“ beigebracht hatte, als es ums Zigaretten holen ging, lernte ich nun ein neues Spiel kennen.
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Ich packte also meinen Koffer und nahm meine Kulturtasche mit. Meine Großtante würde mich abholen in Frankfurt. Über viele Jahre haben wir uns regelmäßig Briefe geschrieben. Nicht zuletzt deshalb war ich Klassenbester in Deutsch. Sie war mittlerweile schon sehr alt, und ich wollte ihr allen Respekt entgegenbringen, bei unserer ersten persönlichen Begegnung, und ordentlich für sie aussehen, sie kannte
mich bisher nur von einigen wenigen Fotos, die ich ihr mitschickte. Sie, dir mir nicht nur eine erste Anlaufstelle werden sollte, sondern die mir die ersten Jahre in der Fremde auch ein fester Halt war.
Ich packte meinen Ausweis in den Koffer. Mein Vater gab mir den Namen Thiago. Thiago Bochini. Diesen Namen gab es jetzt erst Mal nicht mehr. Ich hieß jetzt bis zur Landung in Frankfurt Mario Tinelli.
Ich zögerte einen Moment. Ich hatte die Bibel in der Hand, wollte sie gerade in meinen Koffer packen. Doch ich legte sie zurück auf den Nachttisch. Meine Großtante würde mir sicher gern ihre Luther-Bibel geben, von der sie in ihren Briefen oft so schwärmte. Und das als Katholikin... Ich würde viel darin lesen und so auch gleichzeitig mein Deutsch weiter verbessern. Es schien mir auch in diesem Moment falsch, die Heilige Schrift in meiner Muttersprache zu lesen. Stattdessen packte ich „Le petit prince“ in meinen Koffer. Ich würde es auf dem langen Flug nach Deutschland lesen, zum x-ten Mal, und es wieder ein kleines bisschen besser verstehen, dieses geheimnisvolle Büchlein.
Ich ging in die Küche. Dort hing das Kruzifix meiner Mutter; sie hatte es zur Kommunion bekommen. Ich packte das Kruzifix in meinen Koffer. Meine Mutter. Sie hatte Mut, verdammten Mut. Sie ging seit zehn Wochen Tag für Tag zweimal, manchmal auch dreimal auf die Polizeiwache, und fragte nach Emiliano. Jeden Donnerstag ging sie mit vielen anderen Müttern zum Platz der Mairevolution, vor dem Präsidentenplatz, um dort stumm zu protestieren. Gestern ist sie selbst „verschwunden“. Sie ging in der Früh zum Markt, bis spät in der Nacht war sie nicht zurück. Ich hatte in der Küche gewartet und gewartet, stundenlang, von Minute zu Minute mehr und mehr verzweifelt - irgendwann bin ich dann unter dem Kruzifix eingeschlafen. Am Morgen, kurz nach sechs klopfte es an der Hintertür, energisch, laut, Ich öffnete, hoffte, meine Mutter in die Arme schließen zu können. Da standen eine alte Frau und ein junger Polizist. Es war Diego, mit seiner Mutter. Mein Freund Diego, mit dem ich meine Kinder- und Jugendzeit verbrachte. Wir waren wie Pech und Schwefel, Freunde fürs Leben. Diegos Mutter, die wie meine eigene Mutter so viele Jahre liebevoll für mich da gewesen war, egal, was Diego und ich auch immer angestellt hatten. Diego sagte, während er mir den gefälschten Ausweis und etwas Geld in die Hand drückte, nur zwei Sätze. „Pack deinen Koffer, du hast fünf Minuten Zeit. Das Flugzeug geht um acht, wir bringen dich nach Frankfurt, zu deiner Großtante.“ Fünf Minuten Zeit, um
Abschied zu nehmen von diesem Ort, an dem ich geboren wurde, und um meinen Koffer zu packen.
Für neun Uhr war auch mein Verschwinden geplant.
Ich nahm das Marmeladenglas aus der Küchenanrichte. Den kleinen Rest Marmelade aß ich, ich war wie betäubt. Ich spülte das Glas und den Schraubverschluss, trocknete beides sorgfältig ab und ging dann in den Garten, um das Glas mit Erde zu füllen. Das Glas packte ich in meinen Koffer.
Ich hatte Angst. Ich steckte mein Schweizer Offizierstaschenmesser in meine Hosentasche. Für einen Augenblick musste ich hysterisch lachen. Ich stellte mir einen Zweikampf vor, ich todesmutig mit dem Messer in der Hand. Dann sah ich mich gefesselt auf einem Stuhl sitzend, und gewitzt mit dem Messer das Seil hinter meinem Rücken zerschneidend, während meine Wachen vor sich hin schnarchten. Ich sah mich mich selbst töten, aus Angst vor der Folter. - Ich zog das Messer aus der Hosentasche, legte es wieder an seinen Platz, nahm es erneut in die Hand und legte es schließlich doch in meinen Koffer.
Ich ging ins Wohnzimmer und nahm das Foto, das über der Kommode hing. Mein Bruder und ich, fotografiert vor etwa fünf, sechs Jahren. Mein Bruder war vor wenigen Wochen verschwunden. Einfach so. Gerade war er noch da, plötzlich war er weg. Heute weiß ich, er starb in der Marineschule ESMA, etwa 1.000 Meter entfernt vom Stadion Monumental in Buenos Aires. Dorthin schauten bald Abermillionen Menschen, live, es war Fußball-Weltmeisterschaft. Was mit meiner Mutter geschah, werde ich wohl nie erfahren. Es ist vielleicht auch besser so. Auch Diegos Schicksal ist mir nicht bekannt.
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„Wir töten erst die Subversiven, ihre Unterstützer, ihre Symphatisanten, alle, die sich nicht eindeutig
positionieren und schließlich die Ängstlichen.“
General Ibérico Saint Jean, Gouverneur der Provinz Buenos Aires
Aber das wussten wir vorher schon
18. April 1998
Es war ein schwieriges Projekt, heute ist es endlich vollbracht. Wir haben nun allen 83 uns bekannten Tieren einen Funksender verpasst. Jetzt können wir sämtliche Bewegungen quasi online beobachten. Halleluja. Wir müssen nur darauf achten, auch den Nachwuchs zu gegebener Zeit zu „chippen“. Ein wichtiger Schritt zur Erhaltung dieser wunderschönen Art.
27. Oktober 2002
Um drei Uhr früh klingelte das Telefon. Eine Katastrophe. Die Ölbohrungen sind genehmigt. Mitten im Naturschutzgebiet. Mit den Bohrungen kommt die Industrie, kommen die Menschen, kommt der Tod. Ich bin
verzweifelt. Zwei Jahre Kampf gegen diesen Wahnsinn vergeblich. Aber das wussten wir vorher schon.
14. Januar 2006
Wieder ein unbewegliches Sendersignal. Wir sind geübt… Wir wissen, wenn sich ein Signal länger als einen Tag nicht von der Stelle rührt, haben wir ein weiteres Tier verloren. Es sind jetzt nur noch 25.
13. März 2008
Die Lage hat sich dramatisch zugespitzt. Wir haben bald genug Geld zusammen für die „Operation Adam und Eva“, wie wir sie zugegeben sarkastisch nennen. Hoffentlich klappt alles.
14. August 2008
Es sind nur noch zwei Tiere. Ein Männchen, sechs Jahre alt, und ein Weibchen, noch sehr jung, gerade mal zweijährig. Morgen in aller Früh werden wir uns aufmachen in die letzten heilen Fleckchen dieses
ehemaligen Paradieses und versuchen, beide zu fangen.
12. Juni 2010
Es hat wieder nicht geklappt. Das erste Jahr ging gar nichts, aber dann haben die beiden sich doch angenähert und es auch ein paar Mal versucht. Aber sie ist nicht trächtig geworden. Auch dieses Mal nicht. Ob es an der
Gefangenschaft liegt? Aber was sollen wir machen, es sind die zwei letzten ihrer Art.
Es war ein schwieriges Projekt, heute ist es endlich vollbracht. Wir haben nun allen 83 uns bekannten Tieren einen Funksender verpasst. Jetzt können wir sämtliche Bewegungen quasi online beobachten. Halleluja. Wir müssen nur darauf achten, auch den Nachwuchs zu gegebener Zeit zu „chippen“. Ein wichtiger Schritt zur Erhaltung dieser wunderschönen Art.
27. Oktober 2002
Um drei Uhr früh klingelte das Telefon. Eine Katastrophe. Die Ölbohrungen sind genehmigt. Mitten im Naturschutzgebiet. Mit den Bohrungen kommt die Industrie, kommen die Menschen, kommt der Tod. Ich bin
verzweifelt. Zwei Jahre Kampf gegen diesen Wahnsinn vergeblich. Aber das wussten wir vorher schon.
14. Januar 2006
Wieder ein unbewegliches Sendersignal. Wir sind geübt… Wir wissen, wenn sich ein Signal länger als einen Tag nicht von der Stelle rührt, haben wir ein weiteres Tier verloren. Es sind jetzt nur noch 25.
13. März 2008
Die Lage hat sich dramatisch zugespitzt. Wir haben bald genug Geld zusammen für die „Operation Adam und Eva“, wie wir sie zugegeben sarkastisch nennen. Hoffentlich klappt alles.
14. August 2008
Es sind nur noch zwei Tiere. Ein Männchen, sechs Jahre alt, und ein Weibchen, noch sehr jung, gerade mal zweijährig. Morgen in aller Früh werden wir uns aufmachen in die letzten heilen Fleckchen dieses
ehemaligen Paradieses und versuchen, beide zu fangen.
12. Juni 2010
Es hat wieder nicht geklappt. Das erste Jahr ging gar nichts, aber dann haben die beiden sich doch angenähert und es auch ein paar Mal versucht. Aber sie ist nicht trächtig geworden. Auch dieses Mal nicht. Ob es an der
Gefangenschaft liegt? Aber was sollen wir machen, es sind die zwei letzten ihrer Art.
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