Sonntag, 30. Oktober 2011

„Die sind gut für dich, Opa!“

„Wer ist dein Lieblingskomponist, Jude?“
„Richard Wagner, Herr Hauptmann!“ kam nach kurzem Zögern die Antwort von Samuel.

Wir durften ihn beim morgendlichen Appell nur mit „Herr Hauptmann“ anreden, und ihm nie in die Augen schauen - das war quasi die erste Lektion im Lager.
„Du wagst es, diesen Namen …“ – da knallte es schon – „…auszusprechen, du dreckiger Jude!“
Samuel fiel, sein Schädel war zerfetzt vom Geschoss. Der Hauptmann traf meist sehr genau.

**

Der Mensch ist ein erstaunliches Wesen. Er kann zum Beispiel in einer halben Sekunde Dutzende Gedanken verarbeiten, sie sortieren, abwägen, Entschlüsse fassen und wieder verwerfen, und dann - die Zeit drängt - eine endgültige Entscheidung treffen. Ob diese Entscheidung gut ist oder schlecht, richtig oder falsch, dumm oder weise – das weiß man freilich erst später.

**

„Spielst du ein Instrument?“, fragte der Hauptmann mich, zwei Wochen später. Vielleicht war es auch vier Wochen später, ich hatte kein Gefühl mehr für die Zeit. Ich spürte, dass er mich mit seinen strahlend blauen Augen ansah, in seiner makellos sitzenden Uniform, von der ich nur die gebügelten Hosenbeine und die frisch polierten Stiefel sah. Ich spürte seinen bohrenden Blick auf mir, er fixierte meinen Mund, lauerte darauf, was ich sagen würde. Ich habe das oft beobachtet – bei den anderen.
Die Zeit lief.

**

Was war nur die „richtige“ Antwort? Und, wäre es nicht „richtiger“ für mich, die „falsche“ Antwort zu geben, dann wäre ich endlich frei. Nur noch eine Sekunde diese Qualen, dann erlöst. Nein, ich wollte leben. Es gab Gerüchte, die Russen seien im Vormarsch. Ich wollte ihm die „richtige“ Antwort geben…
Einmal hatte er Benjamin gefragt „Welchen Film magst du?“
Was für eine Frage…? „Oh Benjamin, sag das richtige!“, dachte ich eine Ewigkeit, und in dieser einen Sekunde fielen mir etwa zwanzig, dreißig Filme ein, von „Metropolis“ über „M“ bis „Nosferatu“ und „Die Drei von der Tankstelle“…

„Der blaue Engel“, hörte ich Benjamin sagen. Und ich sah ein Lächeln beim Hauptmann, ein kleines Blitzen in seinen Augen. „Oh ja, die Dietrich – die macht selbst euch Juden verrückt!“, lachte er und verschwand. Die Antwort war „richtig“.

Die Zeit lief. Blauer Engel. Richtig. Richard Wagner falsch. Macht das Sinn?
So sortierte ich alle Fragen und alle Antworten, die mir in dieser halben Sekunde einfielen, hin und her, versuchte Verbindungen zur gerade gestellten Frage zu knüpfen. Spielst du ein Instrument?

Lieblingsfarbe blau. Richtig. Lieblingsstadt Berlin. Falsch. Der schönste Fluss Deutschlands. Natürlich der Rhein. Richtig. Lieblingstier Katze. Falsch. Oh Amos, wie kannst du bei einem deutschen Lagerkommandanten bloß Katze sagen, ein Deutscher Schäferhund hätte dich vielleicht gerettet. Denke ich. Was war bisher mit Musik. Er mag die Oper – und er ist sehr feingeistig, liebt Goethe, Schiller, Bach und Beethoven. Manchmal sitzt er stundenlang auf seiner Terasse und schreibt in ein kleines Büchlein. Gedichte über die Natur. Und manchmal, sonntags, werden sie über den Lagerlautsprecher vorgelesen. Es sind schöne poetische Gedichte. Die meisten von uns glauben nicht, dass sie tatsächlich vom Hauptmann geschrieben wurden. Ich denke schon. Ein und derselbe Mensch ist zu vielerlei in der Lage. Eigentlich ist das doch eine relativ leichte Frage. In diesen lauen Sommernächten tönen immer Etüden von Chopin aus den Lautsprechern, nachts, wenn der Hauptmann mit seinen Gästen und Offizieren feiert, wenn wir versuchen, wenigsten ein bisschen zu schlafen, wenn wir die wenigen Stunden des Friedens haben, untereinander, miteinander in unseren Baracken. So können schöne Etüden schrecklich sein. Meine Wahrheit ist Trompete, das war schön und wild, Ende der 20er, in meiner Jazz-Band in Berlin, Mann, waren wir gut. Aber ich weiß, seine Kugel trifft
mich noch bevor er das Wort Neger-Musik brüllt...

„Ich spiele Klavier, Herr Hauptmann!“, sagte ich ohne zu zögern, starrte dabei auf seine glänzenden Stiefelspitzen und wartete eine Ewigkeit darauf, was passieren würde.

**

„Oh, ein Jude, der Klavier spielen kann.“ Ein ganzer Satz vom Hauptmann. In einem durchaus freundlichen Ton. Ich lebte. Am liebsten wäre ich vor Freude jubelnd über den Hof gesprungen, hätte gern Eli, Adam und Daniel umarmt und geküsst – aber ich stand unbeweglich da, den Blick nach unten gesenkt.

Der Hauptmann kam näher, ganz nah an mich ran, ich konnte seinen Atem riechen. Knoblauch. Er sagte nichts mehr, schnaufte nur und ging.

**

Jahrzehntelang trübte sich mein Geist, wenn ich Knoblauch roch. Als ich noch jung war, reichte es, mich kurz irgendwo festzuhalten, kurz durchzuatmen. Ich hatte erst gehofft, mit zunehmendem Alter würde es besser werden, aber das wurde es nicht. Es wurde schlimmer und schlimmer.

Heute esse ich sogar Knoblauch… Mit großer Freude, ich habe so viele Jahre darauf verzichten müssen. Ich verdanke es meiner Enkelin.

Anna war 14 Jahre jung, sie schenkte mir zu meinem 75. Geburtstag eine Riesen-Vorrats-Packung Knoblauch-Pillen, 150 Stück… - „Die sind gut für dich, Opa!“, sagte sie lachend, als ich erkannte, was ich da aus dem glänzenden Geschenkpapier auspackte. Für einen kurzen Moment wurde mir schwarz vor Augen, ich ringte mit der Ohnmacht. Woher sollte Anna es wissen? Ich habe meine Geschichte in all den Jahren niemandem erzählt, nicht meiner Frau, die ich nach dem Krieg kennen gelernt habe und nicht meinen drei Kindern. Schon gar nicht meinen Enkeln.

Annas Lächeln gefror, sie sah in meine Augen: noch vor einer Sekunde hell, klar und leuchtend, in freudiger Erwartung auf das Geschenk der Lieblingsenkelin, und nun dunkel, trüb und gebrochen. Sie nahm meine Hand, wollte etwas sagen, aber ihr fehlten die Worte. Ich sah Anna, ihr Mund lächelte noch, ihre Augen weinten schon fast. In dieser halben Sekunde verarbeitete ich Dutzende Gedanken, sortierte, wägte ab und fasste einen Entschluss. Wieder war es der richtige Entschluss.

„Anna…“ - meine Augen hellten sich auf, wurden klar und strahlten, heute, an meinem 75. Geburtstag, sollte Schluss sein mit meinem Schweigen - „…,Anna, ich danke dir von ganzem Herzen, du hast mir das schönste Geschenk gemacht, das ich jemals in meinem Leben bekommen habe – ich möchte dir von mir erzählen…“

1 Kommentar: